100 Tage Stadtteilarbeit

Meine ersten hundert Tage…

Einblicke und Ausblicke

Und vergiss nicht,“ ruft Sybille vom Redaktionsteam Thingerszeitung mir im Hinausgehen zu, „deinen Artikel über deine ersten hundert Jahre im Thingers!“ 100 Jahre? Wir stutzen, dann lachen wir los. „Nein, nein, die ersten hundert Tage meint sie,“ verbessert Christa, auch eine Redakteurin des Zeitungsteams.

Ich verspreche, etwas über meine ersten hundert Tage als Stadtteilmanagerin im Thingers zu schreiben.

Vor hundert Jahren, so entnehme ich einer Chronik, war Thingers eine Ansiedlung von Höfen mit knapp 100 Bewohnern. Heute umfasst Thingers ( Nord,  Süd und Ost) knapp um die 5000 Einwohner, wenn Halde, Schwabelsberg, Breite und Lotterberg hinzugezählt werden, kommt der Kemptener Norden auf knapp 10 000 Bewohner. Ein in den 70ger und 80 ger Jahren schnell gewachsener, quasi aus dem Boden gestampfter Stadtteil, der vor allem zugewanderten Bevölkerungsgruppen aus unterschiedlichen Nationen ein Dach über dem Kopf anbot.

Aber Heimat? Wann wird mir der Bereich, an dem ich fortan wohne, eine Heimat? Ich spüre, dass auch Zugewanderte, die hier teilweise schon in der dritten Generation wohnen bzw. hier geboren sind und sogar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, Mühe haben, für sich zu definieren, was ihnen Heimat ist. Wann gilt Integration als gelungen?

Es gibt ein Geheimnis, ein quasi ungeschriebenes Gesetz, das Auswirkungen auf Gelingen oder Scheitern von Integration hat und es spielt dabei keine Rolle, ob ich einen Migrantenhintergrund habe oder nicht. Es geht darum, wer „zuerst“ da war und was passiert, wenn plötzlich jemand hinzukommt. Die Menschen, die schon an einem Ort leben, haben sozusagen – auch wenn es nirgendwo geschrieben steht – die „älteren“ Rechte.

Wenn ich mich als Neubürger bei meinen zukünftigen Nachbarn vorstelle – ich quasi um Erlaubnis bitte, in die Gemeinschaft mit aufgenommen zu werden – dann wird die Akzeptanz für mich als neuer Nachbar gewaltig ansteigen, d.h. die schon dort lebende Gemeinschaft macht „Platz“ für mich.

Ignoriere ich dieses ungeschriebene Gesetz und poche auf „mein“ Recht, dort in „meiner“ Wohnung auf „meinem“ Grundstück jetzt machen zu dürfen, was ich will, werde ich in Zukunft sehr wahrscheinlich in einem Spannungsverhältnis mit meinen Nachbarn leben.

Schon die Hopi-Indianer, selbst ein zusammengewürfelter Stamm aus verschiedenen indianischen Kulturen, fragten dann im Umkehrschluss den, der um Aufnahme in den Stamm bat : „Und was bringst du uns mit? Was kannst du, was für unsere Gesellschaft von Wert ist und was unsere Gemeinschaft bereichern wird?“

So ist Integration ein ausgleichender Akt von gegenseitigem Nehmen und Geben. John F. Kennedy sagte in einer Rede an sein Volk: „Frage nicht danach, was dein Land für dich tun kann, sondern frage dich, was du für dein Land tun kannst.“

Viel ist in Richtung Integration im Stadtteil Thingers schon geschehen; ohne den Einsatz und das tagtägliche (ehrenamtliche) Tun des Vereins „Ikarus“, der sich Integration durch Kultur und Sport auf seine Schwingen geschrieben hat und die Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Thingers unter der Leitung von Willi Stiewing läge Vieles im sozialen Leben des Stadtteiles brach.  Es gäbe kein Thingersfest, keine Müll-Aktionen (weil es uns nicht egal ist, wie es im Stadtteil aussieht!) keine deutsch-russische Singgruppe, keine internationale Handarbeits-, Bastel- und Theatergruppe, keine Menschen, die sich  für die Kinder im Thingers als Sprach – und Kulturpaten zur Verfügung stellten, es könnten keine Räume für Geburtstage, Hochzeiten und Henna-Feste angemietet werden, es gäbe keine Lebenmittelabgabe zu vergünstigten Preisen und und und…

Dennoch plagen sowohl den Verein Ikarus als auch den Arbeitskreis „Nachwuchssorgen“. Es sind (fast) immer die gleichen, die sich engagieren und auch diese werden älter.

Zur Konsolidierung des bereits Bestehenden und zur Schaffung von Neuem, das sich an  den Bedürfnissen der im Stadtteil lebenden Menschen orientiert, braucht es Personen, denen ein lebendiges Miteinander für die Zukunft unseres Stadtteiles am Herzen liegt.

Zunächst einmal sollten wir uns des hier ansässigen, aber wie in einem Dornröschenschlaf vor sich hindämmernden hochwertigen Potentials in diesem Stadtteil bewusst werden. Wie viele Menschen hier sprechen mehr als eine Sprache? Wie viele Menschen verfügen über Talente und Begabungen wie Nähen, Stricken, Reparieren-Können von Dingen, die wir ansonsten wegwerfen, Musizieren, Tanzen, Malen und und und…von denen wir noch gar nichts wissen, weil sie sich (noch) nicht trauen, von denen wir als Gemeinschaft aber alle profitieren würden?

Welche Aufgaben sehe ich in der Gegenwart, damit Zukunft in diesem Stadtteil sich positiv gestalten kann?

  • das Vorantreiben der Anerkennung von im Ausland erworbenen Schul- ,Hochschulabschlüssen und Berufsausbildungen durch Auskünfte, Information und Unterstützung
  • die Förderung von Kindern und Jugendlichen, die hier zweisprachig aufwachsen, dass sie in ihren Bildungschancen gegenüber „Muttersprachlern“ nicht benachteiligt sind
  • mit den Herausforderungen des sog. „demographischen Wandels“ (wir werden immer älter, auch im Thingers sind bereits über 23% der Menschen über 65 Jahre) im positiven Sinne umgehen, indem sich „Nachbarschaftshilfen“ bilden, aber auch das Wissen und die Erfahrungen der älteren Generation für die jüngeren Generationen nutzen
  • Wie können wir kreativ und gemeinnützig mit den Grünflächen in unserem Stadtteil umgehen?

Wenn Ihnen noch weitere Themen einfallen,  was es auch Ihrer Sicht für ein lebendiges Miteinander in unserem Stadtteil braucht, dann suchen Sie mich doch zu meinen Bürozeiten auf. Ich freue mich auf einen fruchtbaren Austausch mit Ihnen!

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